Handelsblatt, Samstag, 24. April 2004
Text & Fotos von Marcus Pfeil

Hasenfuß trifft Löwenmut

Die Südafrikaner feiern 10 Jahre Demokratie. Doch in Rangerkursen gilt weiter das Gesetz des Stärkeren

In Rangerkursen gilt das Gesetz des Stärkeren
In Rangerkursen gilt das Gesetz des Stärkeren

Ein Löwe. Die Spur ist noch frisch. Alastair zeichnet sie auf dem Sandboden mit seinem Zeigefinger nach. „Ein männlicher Löwe. Fünf Jahre alt", sagt er. „Wie frisch?", will Chuck wissen. „Vielleicht sechs Stunden. Aber sechs Stunden heißt nicht, dass wir sechs Stunden hinter ihm sind", sagt Alastair, „können auch sechs Minuten sein!"


Chuck folgt Alastair, und der folgt der Löwenfährte, zu Fuß, im Busch des Phinda Private Game Reserve, eines privaten Wildreservats im Nordosten Südafrikas. Auf dem ehemaligem Farmland ist heute nichts als Wildnis - sanfte Hügel, ausgetrocknete Flüsse, dichte Wälder und ausgedehnte Savannen auf einer Fläche ungefähr so groß wie das gesamte Bundesland Berlin. „Phinda" heißt Rückkehr - und der Name ist auch Programm: Mehr als 400 Tierarten leben heute wieder in dem Reservat, darunter Löwen, Leoparden, Elefanten, Nashörner und Wasserbüffel.

Am nächsten Mittwoch feiern die Südafrikaner zehn Jahre Demokratie. Doch in Phinda regiert nicht das Volk, sondern das Gesetz des Stärkeren. Und Chuck hat sich diesem Gesetz unterworfen. Freiwillig und für vier Tage nächtigt er unter freiem Himmel statt in einer klimatisierten Lodge und marschiert über die endlose Savanne statt über das Putting Green wie die meisten Südafrika-Touristen. Ein „Bush Skill Adventure" hat er gebucht - ein Rangertraining mit Alastair.

Schwarzfersenantilopen und Nyalas, Gnus und Kudus grasen im immergrünen Busch. Der Pfad für Ranger und Touristen ist gepflastert mit Elefantenexkrementen, die den

Teilzeit-Rangern eine Vorstellung über die Größe ihrer Verursacher geben. Auch Warzenschweine und ein Nashorn sind heute schon hier gewesen. Doch die Löwenspur ist frischer. Und die Löwen sind hier nicht hinter Eisenstäben wie im Zoo, sondern womöglich hinter dem nächsten Busch.

Alastair zeichnet zwei Kreise in den Sand, in der Mitte einen Punkt für den Löwen: Den äußeren Kreis nennt er Fluchtzone. „Keine Gefahr, solange wir uns darin bewegen." Erst im inneren Kreis wird es brenzlig. „Fightzone. Sind wir darin, greift er an. Wie nah wir dem Löwen kommen dürfen, hängt von seiner Laune ab, aber der Wind kann uns helfen", sagt Alastair und holt eine alte Baumwollsocke aus seiner Tasche, schüttelt sie drei Mal, bis die Asche aus dem Stoff dringt und jede noch so feine Briese sichtbar macht: Gegenwind. „Riechen kann er uns erst mal nicht."

 

Die Sinne sind wichtig in der Wildnis. Und sie müssen trainiert werden. Vor allem die Augen seien zu träge, sagt Alastair. Aus einer Filmdose schüttet er neun Gegenstände auf seine Handfläche. Zwei Sekunden hat Chuck Zeit, sich Streichholz, Muschel, Münze, Feder, Murmel, ein Stück einer Küchenfliese und drei verschiedene Steine zu merken. An gerade drei Dinge kann er sich erinnern, nicht einmal an die Dollarmünze, die er vor zwei Tagen noch aus dem schützenden Land Rover nach einem Geparden geworfen hatte, nur um diesen zu einem Blick in seine teure Digitalkamera zu bewegen. Alastair hatte das Geldstück am nächsten Morgen im knietiefen Gras gefunden. „Dafür bin ich nicht zu haben", sagt er, „die Tiere verdienen Respekt." Er wusste, dass Chuck geworfen hatte, Chuck Sussman gibt sich als Draufgänger. Dass er Harley Davidson fährt, lässt sich auf seiner privaten Visitenkarte erkennen, die ihn samt Frau auf einer Harley zeigt. Chuck braucht zwei Visitenkarten, denn er ist republikanischer Bürgermeister in Hillsboro Beach, einem Kaff in Florida. Drei Porsche und ein Mercedes füllen seine Garage. Sein Geld hat er mit Software gemacht. Bald geht er in Pension. Er liest Hemingway, zumindest in Afrika, und sieht auch ein bisschen so aus: bulliger Typ, fülliges Gesicht, grau melierter Vollbart. Chuck war schon öfter jagen, immer im Land Rover, immer mit Zielfernrohr. Immer ganz oben in der Nahrungskette.

Alastair Kilpin ist ein Naturbursche, ein drahtiger Typ, hageres Gesicht, glatt rasiert. Aufgewachsen ist er in Kapstadt, in Stellenbosch hat er Business studiert. Ranger wollte er trotzdem immer werden, seit ihm als kleiner Junge ein Leopard direkt vor die Füße sprang. Seit fast sechs Jahren arbeitet er in Phinda und trainiert dort wiederum Ranger - und seit neuestem auch Touristen wie Chuck. Alastair hat noch nie auf ein

Tier geschossen, nicht einmal auf ein Löwenweibchen, das mit 15 Metern pro Sekunde auf ihn zusprang und erst drei Meter vor ihm abdrehte. Alastair hasst das Gewehr. „Es mindert die Aufmerksamkeit", sagt er, „weil jeder denkt, sich im Notfall darauf verlassen zu können." Für den Notfall zeigt er Chuck trotzdem, wie er in einer Sekunde das Gewehr durchladen und in Schussposition bringen kann. Laden, anlegen, zielen. Doch Chuck ist jedes Mal zu langsam, wenn er auf die beweglichen Wasserbüffelattrappen schießen soll.

Als ihn Alastair fragt, ob er trotz der missglückten Schießübung die Nacht unter freiem Himmel verbringen will, verbietet ihm sein Stolz, nach dem Land Rover zu fragen. Alastair weiß in der Nähe ein ausgetrocknetes Flussbett, das er für einen geeigneten Schlafplatz hält, weil es „nachts viele Tiere durchqueren". Die Löwenfährte haben sie in der Dämmerung ohnehin verloren. Zwei schmale Matratzen bilden das Nachtlager. Alastair hat zwei Moskitonetze über die Feldbetten gespannt. Er macht Feuer. Feuer sei das Wichtigste nachts, weil es die meisten Tiere abschrecke. Er habe aber auch schon einen Leoparden erlebt, den das Feuer überhaupt nicht störte, sagt Alastair und grinst. Er wird die Nacht am Feuer wachen.

Chuck hat sich längst in seinen Schlafsack zurückgezogen. Seine Augen braucht er nicht mehr. Es ist Neumond. Seine Ohren haben längst den Job übernommen, die Tiere wahrzunehmen. Jedes Knacken im Geäst, jeder Tierlaut aus der Dunkelheit reißt ihn aus dem Halbschlaf, treibt ihm den Schweiß auf die Stirn, es könnte ja der Löwe sein. Chuck hat Angst, und Chuck hatte selten Angst in seinem Leben.

Alastair hat ihn erst im Morgengrauen geweckt. Gerädert von dem Tag, ist Chuck irgendwann doch eingeschlafen. Und heute ist Chucks Tag. Er darf führen, muss Spuren lesen und den Weg zurück zum Camp finden. Chuck glaubt, dass die eigenen Spuren vom Vortag der schnellste Weg seien. Er findet den Weg zurück aus dem Flussbett und auch den Abdruck seiner Nike-Basketballstiefel im Sand. Irgendwas war aber nach ihnen hier. Er kann die Spur nicht lesen, fragend schaut er zu Alastair. Es war der Löwe. Das Grinsen ist auch ihm vergangen.

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