Sven Ottke auf dem Kilimanjaro |
Weiter, nur weiter. Seit Stunden liegt im fahlen Mondlicht das Ziel vor Augen, doch wirklich näher gekommen scheinen wir ihm nicht. Der Gipfel des Kilimanjaro: 5.895 Meter, höchster freistehender Berg der Welt. Werde ich es schaffen? Oder werde ich, wie so manch anderer, ein Opfer der gefürchteten Höhenkrankheit? Seit Tagen kreisen die Gedanken nur um diese eine Frage. Die 5.000-Meter-Marke ist längst passiert, jeder Schritt kostet Überwindung.
„Pole, Pole", haben die Führer von An fang an gemahnt, „langsam, langsam, lasst euch Zeit." Jetzt, da sich der Sauerstoffmangel bemerkbar macht, braucht es solche Ratschläge nicht mehr. Bedächtig wird ein Fuß vor den anderen gesetzt, jeder Schritt eine bewusste Entscheidung. Nur nicht den Kontakt zum Vordermann abreißen lassen. Den richtigen Rhythmus finden, die dünne Luft tief bis in die Lungenspitzen pressen. Und mit den Zehen spielen, die mittlerweile eiskalt gefroren sind - kein Wunder bei Temperaturen von minus 22 Grad.
Vor knapp einer Woche sind wir am Machame-Gate auf 1.800 Meter Höhe ge startet. Eine Frau und sieben Männer, eine bunte Truppe mit unterschiedlichsten Voraussetzungen: Angefangen beim Profisportler Sven Ottke, Doppelweltmeister im Boxen, über Fuzzy Garhammer, ebenfalls ehemaliger Weltmeister und deutsche Trick-SkiLegende der siebziger Jahre, bis hin zum Freizeitsportler, der erst drei Monate vor der Tour mit regelmäßigem Ausdauertraining begonnen hat.
Als wir hören, dass uns rund 30 Träger auf den Berg begleiten, sind wir verblüfft. Aber dann sehen wir, was sie alles an Ausrüstung, Lebensmitteln und Zelten in große Säcke und Körbe, die sie meist auf dem Kopf tragen, verstauen. Zwischen 20 und 30 Kilo wuchtet jeder bergan, wir sind schon froh, dass wir nur unseren Tages rucksack mit Wasserflaschen, Regensachen und einem warmen Pullover tragen müssen.
Teilnehmer Sven Ottke mit Chef-Führer |
Gut 18 Kilometer geht die erste Tagesetappe immer stetig bergauf durch den Regen wald. Eine märchenhafte Landschaft: Urwaldriesen, gigantische Farne und dicke, moosbewachsene Äste, die bizarre Skulptu ren formen. Der anfangs breite Weg wird schnell zu einem Pfad, der mit Wurzeln durchzogen ist. Nach fünfeinhalb Stunden ist Machame-Camp auf 3.000 Meter erreicht.
Am Abend erklärt Chef-Führer Honest, ein 32-Jähriger, der schon 175 Mal den Gipfel erklommen hat, noch einmal, was uns erwartet: Aufstieg auf 3.900 Meter (Shira-Camp). dann über den Lava Tower (4.600 m) zum Barranco-Camp (3.950 m). weiter zum Karanga-Camp (4.200 m) und schließlich über eine Abkürzung zum Bara tu-Camp (4.600 m), der letzten Station vor dem Gipfel-Aufstieg. In den nächsten Ta gen stellt sich schnell eine gewisse Routine ein. Nach dem Aufstehen morgens um sechs entschädigt ein traumhafter Blick auf den gletscherbedeckten Gipfel in der Morgensonne für die nicht sehr erholsamen Zeltnächte. Die Luftmatrazen sind kaputt, es ist bitterkalt, viele haben in der Höhe Schlafstörungen. Auch Sven Ottke: „Die Nächte sind eine Katastrophe", klagt er.
Aufstieg durch den Regenwald zum Machame - Camp |
Was so vernünftig klingt, ist gar nicht so leicht umzusetzen. Die langen Ruhezeiten nach der täglichen Ankunft kurz nach Mittag im Camp zerren an den Nerven. Es gibt nichts zu tun, der Gesprächsstoff nimmt kontinuierlich ab, und nur seinen Gedanken nachzuhängen, ist auch nicht jedermanns Sache. „Noch so ein Pille-Palle-Tag", schimpft Ottke nach dem vierten Tag und der dritten schlaflosen Nacht. Er würde am liebsten einen Tag abkürzen. Sechster Tag, Gipfel-Aufstieg. 1.300 Höhenmeter liegen vor uns. Um Mitternacht geht es los, jedenfalls für die „Amateure". Die Profis mit Ottke an der Spitze starten zwei Stunden später. Alle wollen gemeinsam am Gipfel ankommen. Es folgen sechs harte Stunden, zum Schluss windet sich der Pfad scheinbar endlos durch Lavasand und -geröll.
Und dann, ganz plötzlich, ist der Kamm erreicht. Stella Point, gut 5.750 Meter hoch. Am Horizont kündet ein roter Streifen den Sonnenaufgang an. Ich will schreien vor Erleichterung, und bringe nur ein Krächzen heraus - die eisige Kälte hat sich auf die Stimmbänder gelegt. Welch ein Gefühl des Triumphes, was für eine Euphorie.
Wenig später kommt Sven Ottke, er hat Bettina mitgebracht, die vor einer Stunde am Fuß des letzten Anstiegs schon aufge ben wollte. Die Morgensonne belegt den Lavasand mit einem sanften Rot, strahlend weiß leuchten die Gletscher, die sich meterhoch auftürmen. Unter uns, wie ein endloser Ozean, die Wolkendecke. Was für ein Anblick.
Der Abstieg ist fast noch schlimmer als der Aufstieg. Knöcheltief sinken wir bei jedem Schritt ein, die Knie fangen an zu schmerzen. Bis auf 3.000 Meter müssen wir hinunter, eine Tortur. Erst einen Tag später, nach weiteren 1.200 Höhenmetern schmerzhaftem Abstieg, sitzen wir im Garten der Mount Meru Game Lodge bei Arusha, haben die erste Dusche seit einer Woche hinter uns und schauen den Zebras, Strauss en und Wasserbüffeln zu, die sich in e inem Freigehege tummeln. Plötzlich reißt die Wolkendecke auf und gibt noch einmal den Blick auf den Kilimanjaro frei. Da oben sind wir gewesen?
Kaum zu glauben, aber unvergesslich.
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