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Süddeutsche Zeitung, Dienstag, 26. November 2002
von Arnd Wesemann

Die Jagd nach dem Aschenkreuz

Priester, Bettler und die Zehn Gebote:
Zu Besuch bei den schnellsten Menschen der Welt

Meskal, überall hört man dieses Wort, ausgesprochen wie das Knacken eines trockenen Asts, Meskal, „das wahre Kreuz finden“, so heißt es wörtlich. Meskal sind kreuzförmige, knallgelbe Blüten, die in der Regenzeit blühen. Auch der riesige Platz mitten in Addis Abeba, der äthiopischen Hauptstadt, heißt Meskal, überwölbt von zwei riesigen Torbögen, als hätte man mit Beton das hier zum Greifen nahe Himmelsgewölbe skizziert. Sonnenaufgang. Sachter Verkehr fließt unter den Bögen, ergießt sich ins Stadion. Der Meskal-Platz ist eine Arena, dreihundert Meter lange Stadionstufen an seiner Seite, ein schmaler Straßenabfluss, Pferdegespanne, klapprige Taxis, kleine Lastwagen, die mitten durchs Stadion fahren.


Harte Schatten werfen die Männer in ihren Trainingsanzügen, die gegen die Sonne blinzelnd in der Arena die Stufen hoch und wieder runter hecheln, entlang historischem Mauerwerk und an Passanten vorbei, die stehen bleiben, die Stufen absuchen nach einem kleinen Mann, Haile Gebrselassie, dem weltberühmten ehemaligen Weltrekordhalter im Marathon und 15-fachen Rekordhalter in den Distanzen fünf und zehn Kilometern. 

29 Jahre alt, Besitzer zweier Hochhäuser, des ersten privaten Kinos der Stadt, eines Sportgeschäfts und Fitness-Studios, ist er der erfolgreichste Bürger von Addis Abeba. Die längste Straße in Addis, die frühere Eritrea Road, ist nach ihm, dem Volkshelden, benannt, weil er sein Vermögen auf zwei Beinen erarbeitet hat wie fast jeder in diesem Land. 65 Millionen Äthiopier arbeiten zu Fuß. Schotterpisten sind ihre Rennbahn. Sie trainieren mit Bau- und Brennholz, Wasserkanistern und Holzkohle, die sie mit einem Stock gestützt über Marathondistanzen so lange transportieren, bis ihre tausend Lachfältchen von Schweiß benetzt sind wie eine feinädrige Meskalblüte im Morgentau.

Kirche Äthiopien
Kirche Äthiopien

Am 27. September, dem Tag des Tourismus und Tag des Meskal-Fests, sticht die knallgelbe Blume überall ins Auge. Am Nachmittag füllt sich der Platz in Addis Abeba - Neue Blume heißt die Stadt nicht umsonst - unablässig strömen die Menschen, 300 000 sollen es sein, achtzig Völker. Überall, auch ungesichert oben auf den das Himmelsgewölbe skizzierenden Torbögen, warten diese Menschen auf ein bekanntes kleines Wunder. Drei Zelte stehen im Zentrum des Platzes. Unter dem mittleren Zelt thront der Patriarch der orthodoxen Kirche Äthiopiens mit goldenem Kreuz in weißem Gewand, Paulos Gebrehiwot. Links von ihm sitzen die Politiker und Diplomaten, rechts die hohen Priester. Gespielt wird das Stück „Königin Helena von Konstantinopel sucht dreihundert Jahre nach Jesu Kreuzigung auf dem Berg Golgatha nach dem Kreuz, das sie nicht finden kann, bis Gott einen Brand entfacht und der Rauch just an der Stelle niedergeht, an der sich die Reliquie befindet“.

Tausend Priester aus allen Regionen des ostafrikanischen Hochlands haben sich vor dem Patriarchen versammelt, tausend leuchtend weiße und bunte Gewänder, goldverzierte Samtschirme, Kronen, Turbane und Tuniken, Speere, Stäbe, Flöten, die die Beschützer der 30 000 Kirchen in diesem christlichsten, religiösesten aller afrikanischen Länder kleiden. Im Konvoi setzen sich Priester und Diakone in Bewegung, eine Love-Parade im urchristlichen Sinn. Jede Abteilung bricht in einen wie gelähmt wirkenden Trance-Tanz aus, den 400 Jahre alten Tanz von König David, sobald sie vor dem Patriarchen anhalten. Eine Theaterprozession, wie bei uns im Mittelalter, eine Aufführung für den Popen allein, der vor lauter Fernsehkameras nur wenig sieht. Bis ein immenser Scheiterhaufen mitten in der Arena in Flammen aufgeht. Gottes Feuerzeig.
Plötzlich ist kein Halten mehr, die 300 000 Zaungäste, bis dahin von Polizeipferden und knüppelschwingenden Uniformierten in Schach gehalten, drehen durch. Ein Gellen aus 300 000 Kehlen pflanzt sich bis in die Nebenstraßen fort. Die ersten überwinden den Polizeikordon, und nun wird klar, warum die Äthiopier die besten Läufer der Welt hervorbringen. Während Polizisten mit Gummiknüppeln in die Masse dreschen, durchbricht ein Junge den Kordon und läuft mit einer Geschwindigkeit auf das noch mehrere hundert Meter entfernte Feuer zu, als gälte es sein Leben zu retten - der hinterher setzende Polizist ist keine Zehntelsekunde langsamer - am nächsten Morgen werden beide auf dem Meskal-Platz wieder einträchtig nebeneinander trainieren. Doch jetzt wird Jagd gemacht. Das Feuer ist heilig. Da will der Junge hin. Ein Aschenkreuz auf der Stirn aus diesem Feuer verspricht Glück und Wohlstand.

 

Priester in Gondar
Priester in Gondar
Bauern Äthiopien
Bauern Äthiopien

Die Äthiopier rennen, so schnell kann keiner gucken, und der Schweizer Botschafter, der das Chaos kennt, rettet sich in seine Limousine, die augenblicklich versinkt in der Masse der gottesfürchtig zum Feuer eilenden Christen. Den Wagen verschluckt eine Menschenmasse, die heulend wie eiskalte Meeresbrandung gegen die verzweifelt standhaltenden Polizisten schlägt.
Äthiopien am Tag danach. Ein strahlend blaues Himmelsgewölbe, ein mildes Lüftchen regt sich auf 2500 Metern Höhe. Angenehme Kühle in einem Land, das noch immer mit der Hungersnot in den achtziger Jahren, der Revolution und dem Krieg in den neunziger Jahren assoziiert wird. Dabei war es auch mal das Zentrum des in westlichen Schulbüchern ignorierten, uralten Axumitischen Reiches - einst eine Großhandelsmacht wie Rom, Persien, China, welche das gesamte Rote Meer und damit den Handel mit Gold und Elfenbein von Afrika nach Asien und Europa unter Kontrolle hatte. Axum heute - tausend Kilometer nördlich von Addis Abeba - ist ein tristes Wüstenkaff in der Nähe der Grenze nach Eritrea. Fliegen in den Augen der Kinder, die irgendwann lernten, dass scharenweise Touristen einen Birr erübrigen. Die sind wegen der dreißig Meter hohen, aus einem Steinmonolithen gehauenen Stelen gekommen und verteilen nun schmutzstarrende Geldnoten aus falschem Mitleid. So entstand eine wahre Bettlerarmee, die den Tross der Besichtiger weiter zum religiösen Zentrum Äthiopiens führt, zur Kirche der Heiligen Maria von Zion, die Kaiser Halle Selassie 1965 neu errichten und sie von alten Herren mit Kalaschnikow beschützen ließ, weil sich in einem Nebengebäude, man glaubt es nicht, die Zehn Gebote, die israelitische Bundeslade, befinden soll.

Meskal Fest
Meskal Fest

Karte Äthiopien
Karte Äthiopien

Jedem sein eigenes Exemplar 

Auch viele der Priester, die in Addis tanzten, sind wieder da, Verehrer eines Kirchenerbauers, der sich Kaiser nennen durfte. Halle Selassie, immerhin der 237. Herrscher in der salomonischen Reihe, stürzte 1974 vom Thron. Damit wurde eine bald 3000 Jahre währende, von Gott erwählte Kaiserkaste entmachtet. Zu den Proselyten des Kaisers zählen auch die Jamaikaner, die Rastafari, die südlich von Addis in Shashemane von Haue Selassie ein paar Quadratmeter Land erhielten, um ihm an Ort und Stelle, von Marihuana umwölkt, huldigen zu können.
Was immer danach kam, Kommunisten, Bürgerkrieg, eine demokratische Regierung, angeführt von den Siegern im Krieg gegen Eritrea, hatte nur wenig Einfluss auf ein Reich das sich noch immer in unmittelbarer Abstammung des weisen Bibelkönigs Salomon sieht. Jener Salomon empfing um 980 vor Christus in Jerusalem die äthiopische Königin Makeda Saba (auch: Sheba), woraus eine Liebesbeziehung und schließlich König Menelik als ihr Sohn erwuchs. Der oder dessen Gefolge brachte sich in den Besitz der Bundeslade und kehrte zurück nach Äthiopien. Aber weder Kaiser noch sonst wer haben seit gut 3000 Jahren die Zehn Gebote je zu Gesicht bekommen.

Unwahrscheinlich, dass sich die Gebotstafeln tatsächlich hier befinden. Dafür war der weise Trick der Äthiopier zu großartig: Benedikt I. ließ aus Angst vor Rache- und Raubzügen 29 999 Kopien der Bundeslade herstellen und versteckte jede einzelne in den Hinterzimmern der 30 000 Kirchen. Wohlgemerkt: Keines der Zehn Gebote lautet „Du sollst nicht täuschen". Wo sich das Original tatsächlich befindet, oder ob es überhaupt existiert - wen schert es, wenn jede Gemeinde ein heiliges Exemplar hinter ihrer Kirchengardine vermutet, die das sakrosankte Innerste trennt von der profanen Welt der Gottsucher.
Von Kirchen wimmelt es auf der „Historischen Route", dem Klassiker des äthiopischen Reisetourismus, auf den Spuren seiner versunkenen Hauptstädte, von Axum über Lalibela und Gondar immer weiter nach Süden, auf der Flucht vor Wüstenbildung, auf der Suche nach Wasser, bis zur heutigen, 1886 gegründeten Kapitale Addis Abeba (eigentlich: Addis Ababa; Abeba ist die deutsche Verballhornung der englischen Aussprache) - dem Sitz der Organisation Afrikanischer Staaten, dem Brüssel Afrikas, Ort der schönsten diplomatischen Träume von einem nach EU-Vorbild zu errichtenden Kontinent mit gemeinsamer Währung.
Das sind Zukunftsträume mitten im Mittelalter der Zivilisation, in der tausende Kirchen wie Trutzburgen vor jeglicher Art der Modernisierung stehen - vor allem die in riesige Felsen aus rötlichem Tuffstein in Lalibela gehauenen (nicht gebauten), perfekt vom Dach zum Boden hinunter aus dem Stein herausgeschlagenen zwölf Skulpturalkirchen: das so genannte Achte Weltwunder, in nur vierzig Jahren ausgehöhlt - zwölf von 240 Felsenkirchen im ganzen Land, in den Stein gegraben mit der Vision des Kaisers Lalibela Ende des 12. Jahrhunderts, der vergiftet wurde und im Koma lag, als ihm die Engel eine präzise Vorstellung davon entwickelten, wie er Jerusalem, das unerreichbar geworden war, in Afrika wieder aufbauen müsse - in Stein gemeißelt und von Olivenbäumen umringt.
Als er erwachte, begann ein tüchtiges Hämmern und Graben, überhaupt eine Spezialität in Äthiopien. Es soll sogar einen 150 Kilometer langen antiken Tunnel geben, der vom Inland bis an die heute eritreische Küste nach Adulis führte. Einen Transporttunnel, aus Angst vor Räubern erbaut. Oder aus dem längst nationalisierten Gefühl heraus, in Äthiopien wie auf einer Insel zu leben, umringt von Andersgläubigen.

Eine Insel im Tana-See, bodenseegroß, Ursprung des Blauen Nils. Von den mehr als tausend Klöstern befinden sich allein 38 auf den hiesigen Inseln, abgeschnitten von der Welt. Ringsum sind neunzig Prozent der Bevölkerung Bauern, keiner von ihnen verfügt über eine von Bibelinhalten sonderlich abweichende Bildung. Tief in ihren Teff (eine Hirseart) gebeugt, das Kreuz um den Hals, leben sie mit ihren Ochsenpflügen noch beinahe so wie im 4. Jahrhundert, als Äthiopien als erstes Land überhaupt das Christentum zur Staatsreligion erhob.
Aba Tekle Medhin, der seit dreißig Jahren auf einer solchen Klosterinsel lebt, behauptet, sie noch nie verlassen zu haben. Mit der Gesellschaft habe er nichts zu tun; aber auch er lebt weniger vom kircheneigenen Acker, sondern von Touristen, denen er seine bunte Kirche zeigt, in der zwei Trommeln stehen, der einzige Unterschied zur russisch-orthodoxen Kirche mit ihren mandeläugigen Ikonen. Weiter geht's zu den Kirchenschätzen, alten Bibeln, Kreuzen und Kronen in einem Pavillon, wieder von einem Alten mit Kalaschnikow bewacht, und dann ist der Obolus zu entrichten in einem Land, von dem man glauben möchte, es sei, wie in unserem Mittelalter, fast vollständig von der Kirche beherrscht. Die Kommunisten, die bis 1991 regierten, enteigneten zwar ihre Latifundien, aber die Sitte hat sich gehalten, nur einen kleinen Teil des Besitzes seinen Kindern zu vererben, die in Äthiopien niemals ins Haus des Vaters einziehen. Dieses fällt der Kirche zu.
Der Immobilien- und Landbesitz der Orthodoxen müsste heute, bei aller mönchischen Bescheidenheit, wieder unermesslich sein. Der Rest ist weises Schweigen, gemächliche Verachtung des Fortschritts. 300 000 Gläubige verlassen glücklich den Meskal-Platz. Die meisten mit einem Aschenkreuz auf der Stirn. Und dem unbändigen Vorsatz, das nächste Mal abermals schneller zu laufen als die Polizei.

Beste Reisezeit:

Grün ist Äthiopien zwischen August und Oktober, bunt ist der Besuch während der kirchlichen Feste, zwischen dem 7. Januar (Äthiopisches Weihnachten) und dem Epiphanias-Fest am 19. Januar,
sowie zwischen dem 11. September (Äthiopisches Neujahr) und dem Meskal-Fest am 27. September.

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