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Gentlemen's Quarterly, Montag, 1. Dezember 2003
von Hauptmeier Ariel

Der Mann mit dem Weitergen

Zehn Tage nach seinem letzten Kampf quälte er sich auf den Kilimandscharo.
Und am 13. Dezember verteidigt SVEN OTTKE wieder seinen WM-Titel, obwohl er schon seit Jahren aufhören will. Warum nur muss der erfolgreichste Boxer Deutschlands jede, aber auch jede Schmerzgrenze überschreiten?

Sven Ottke auf dem Kilimanjaro
Sven Ottke auf dem Kilimanjaro

Noch einen Schritt, dann noch einen, wieder einen und den nächsten; und der Wind wird immer eisiger und die Luft immer dünner. Es ist kurz nach vier, am schwarzen Himmel hängt der Mond und beleuchtet einen schma len Weg, der sich in Serpentinen auf den Kilimandscharo windet. Oben schimmern die Gletscher des Gipfels, 5895 Meter über dem Meer. Das Ziel. „Ich habe Hunger", sagt Sven Ottke in die Stille hinein.


Um zweiUhr ist er aufgebrochen, auf 4600 Mtern, es gab nur Tee und Kekse, jetzt hat er Magenkrämpfe. Er isst zwei Müsliriegel, trinkt einen Schluck und verstaut seine Flasche wieder außen am Rucksack. Ein Fehler, bei minus 25 Grad. Kurz darauf ist das Wasser gefroren. Weiter. Hinauf. Wie lange noch, wie weit noch?

36 Jahre ist Sven Ottke alt und einer der erfolgreichsten deutschen Sportler. Er ist Weltmeister im Supermittelgewicht von zwei Boxverbänden, das hat nicht einmal Henry Maske geschafft. Er gilt als einer der schnellsten und technisch versiertesten Faustkämpfer dieser Zeit, er ist auf dem Gipfel seines Ruhms. Am 13. Dezember wird Ottke seinen Titel zum 20. Mal verteidigen (sein Gegner stand bei Redaktionsschluss noch nicht fest). Doch egal, wer antritt: Millionen werden sich den Kampf anschauen. Seit 1997 ist Ottke ungeschlagen, nie war er so populär wie heute.

 

Kilimanjaro - mühsamer Auftieg
Kilimanjaro - mühsamer Auftieg
Pause im Zeltlager
Pause im Zeltlager

Mehrfach hat er seinen Rücktritt angekündigt, jedes Mal hat er ihn verschoben. Er weiß: Nicht lange und es könnte bergab gehen. Eine winzige Unaufmerksamkeit, ein einziger Schlag und seine Karriere ist zu Ende. Noch nie hat Ottke durch K.O. verloren, sein größter Trumpf sind seine Reflexe, doch die bleiben nicht ewig so blitzartig. Das Risiko wächst und wächst, mit jedem Kampf.

 

Was also tun? Unbezwungen abtreten? Oder nach weiteren Gipfeln streben, sich im späten Glanz sonnen, das Geld einstreichen? „Den richtigen Zeitpunkt aufzuhören findest du nie", sagt Ottke. Und macht erst mal weiter. In dieser Nacht besteigt er den Kilimandscharo. Warum? Weil ihn das neue, unbekannte Extrem reizt, weil er neue Grenzen erfahren will. Er soll nicht enttäuscht werden. Nur wenige Stunden trennen ihn von der völligen Erschöpfung.

Er hat schon Grenzen kennen gelernt auf dieser Reise: Morgens, nach eisigen, durchwachten Nächten, lagen seine Nerven regelmäßig blank, seine fröhliche Kumpel haftigkeit, sein unbeschwertes Machotum, sein derber Humor waren dann verschwunden. Er wurde einsilbig, setzte sich an die Spitze der Kolonne und ließ den Rest der Gruppe, sechs Männer und eine Frau, weit hinter sich.

 

Ottke Normalverbraucher: Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und ein Haus im Grünen, fährt einen Volvo und trinkt lieber grünen Tee als Kaffee. Einzige Besonderheit: Er spielt gerne Golf. Alkohol? Rotlicht? Die Sau rauslassen? Nein, das mag der boxende Arbeiter nicht. „Ich bin, wie ich bin", sagt Ottke. Mannhafter solle er werden, hat ihm sein Trainer geraten, in Anzug und Krawatte zur Pressekonferenz kommen, öffentlich nicht rumalbern, seriöser auftreten. Ottke denkt nicht daran. „Ich habe lange genug den Kopf hingehalten, damit ich machen kann, was ich will", sagt er. Und kommt im Trainingsanzug zur Pressekonferenz, wer das nicht mag, soll weggucken. Ein Image pflegen, einen öffentlichen Ottke konstruieren, anders als der private Ottke? Kann er nicht, will er nicht. Nahrungsaufnahme ...
Nahrungsaufnahme ...

Ottke ist ein Wunder an Disziplin. Andere Boxer lassen nach einem gewonnenen Kampf alles schleifen, lassen sich feiern, fressen sich voll, hängen rum. Ottke hingegen geht gleich wieder joggen oder in den Kraftraum. Oder besteigt eben den Kilimandscharo, zehn Tage nach seinem letzten Kampf. Ein 36-jähriger Zappelphilipp, der so heftig an sich arbeitet, dass ihn sein Trainer eher bremsen als antreiben muss; einer, der nicht nur auf den harten Isomatten schlecht Ruhe findet. Sven Ottke ist einfach nicht in der Lage abzuschalten. Und noch mehr als das Nichtstun hasster, sich unterzuordnen. Auf günstiges Wetter warten, tagelang im Zelt hocken, angewiesen sein auf andere und die Natur? Ein hässlicher Gedanke. Ottke, bekennender Dickschädel und Sturkopf, Ottke, der Einzelkämpfer.

Auch jetzt, in dieser Nacht, macht Ottke, was er will. Irgendwo hinter ihm keucht Paul Friedrich , ein gut trainierter Mittvierziger, Besitzer der Firma Afrika Reisen Exklusiv, der Ottke zu dieser Tour eingeladen hat. „Bleibt zusammen", hat der tansanische Hauptführer am Vorabend den beiden eingeschärft - und hinzugefügt: „Sven, teil nicht wieder die Gruppe." Ottke hat genickt. Doch als Friedrich schon bald nach dem Aufbruch immer lauter zu schnaufen begann und schließlich zurückfiel, ging Ottke seines Weges.

Dann geht die Sonne auf. Ottke holt die Gruppe ein, die zwei Stunden vor ihm gestartet ist. Und irgendwann erreichen alle gemeinsam den Gipfel. „Ich fühle mich wie ein 85-jähriger Mann", sagt Ottke und setzt seinen Rucksack ab, „ich bin noch nie so kaputt gewesen." Weil sein Wasser gefroren ist, hat er kaum getrunken, ein mörderischer Fehler in diesen eisigen Höhen. Und so ist das Kraftpaket Ottke ähnlich erschöpft wie die Übrigen der Gruppe, die Stadtparkjogger und Mittelgebirgskletterer.

Der Aufstief führt nicht nur durch kahle Berglandschaft
Der Aufstief führt nicht nur durch kahle Berglandschaft
Im Zelt auf dem Dach Afrikas
Im Zelt auf dem Dach Afrikas
Ottke schaut sich um. Bewundert die Landschaft, den Krater aus Lavasand, die Gletscher. Horcht in sich hinein. Müdigkeit spürt er da, aber kein Glück. Keine Euphorie. Nicht dieses große Gefühl, das jeder Bergsteiger kennt: die Einbildung, in Drachenblut gebadet zu haben, sich auf dem Berg gestählt zu haben für die Täler des Alltags. Gipfelglück stellt sich bei Ottke nicht ein, nicht jetzt und auch am nächsten Abend nicht.

Da steht er frisch geduscht im Garten eines Hotels, am Fuß des großen Berges. Die Wolkendecke reißt auf. Kurz, nur wenige Minuten, ist der Kilimandscharo zu sehen. Alle springen auf, zücken die Kameras und suchen die Plätze mit der besten Sicht, doch Ottke schaut kaum hin. Er ist in Gedanken längst wieder woanders. Bei seiner Frau, den Kindern, beim Boxtraining und der Vorbereitung auf seinen Kampf. Beim Anmarsch auf den nächsten Gipfel.

 

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